Podiumsdisskusion: WENN KINDER BEIM LERNEN SCHEITERN - AUFGABE FÜR WEN?
Kinder mit Legasthenie und/oder Dyskalkulie haben oft ihr Leben lang erhebliche Schwierigkeiten – zuerst in der Schule, dann im Arbeitsleben. Hilfe wäre möglich und durchaus kostensparend, aber die Kinder und ihre Familien werden allein gelassen.
Nicola Beer, MdB, Staatsministerin a.D., Generalsekretärin der Freien Demokraten sprach dazu in einer Podiumsdiskussion am 08. Juni 2018 in den DRK Kliniken Berlin I Westend mit Experten aus Wissenschaft und Praxis.
Ketzin I Berlin, 11. Juni 2018. Eine eindeutige Antwort erhielten die ca. 230 Teilnehmenden der Podiumsdiskussion nicht auf die Frage wie es gelingen kann, Kinder mit großen Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und/oder Rechnen lernen aus dem Kreislauf von Versagen und Angst zu befreien. Einig aber waren sich die Experten, dass Lerntherapeut/innen in der Schule eine erfolgversprechende Maßnahme wäre. Denn dadurch kann Kindern mit Lernstörungen frühzeitig und unbürokratisch geholfen werden. Eine praktikable Umsetzung ist derzeit aber nicht in Sicht. Auch wenn Schulen zunehmend mehr Selbstbestimmung erhalten und neben dem „klassischen“ Lehrer weiteres Personal einstellen könnten, betrachten viele Schulleitungen diese Eigenständigkeit eher als Eingriff oder Überforderung. Bei den stetig steigenden Anforderungen wünschen sich Schulen Entlastung, die sie in erster Linie darin sehen, mehr Lehrpersonal zu beschäftigen und nicht, weitere Professionen im Schulalltag zu integrieren.
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Nicola Beer setzt auf die Möglichkeiten der Digitalisierung. Digitale Diagnosemittel und pädagogische Lehrmittel sollen Lehrkräfte unterstützen, bei der viel geforderten, aber bisher nicht umgesetzten individuellen Förderung der Kinder voranzukommen. Zudem empfiehlt sie, evaluierte Verfahren zu etablieren und Schulleitungen darüber zu informieren. Dem stimmte Marlies Lipka, Geschäftsführerin des FiL zu, warf jedoch die Frage auf, wie dies gelingen kann. Seit Jahren gibt es erfolgreiche Kooperationsprojekte von Lerntherapie und Schule, die von engagierten Schulleitungen, Lehrkräften und Lerntherapeuten durchgeführt werden. Von einer Übertragung in „die Fläche“ sind sie alle weit entfernt. Die Stifterin Helga Breuninger berichtete von einem Modellprojekt an drei Schulen in Berlin Moabit, welches zeigte, dass von der Kooperation von Lerntherapie und Schule alle profitieren, die betroffenen Kinder, deren Eltern, aber auch die Lehrkräfte und alle anderen Kinder der Klasse. Lehrkräfte werden entlastet, weil sie in ihrer Sorge um Kinder mit besonderen Schwierigkeiten nicht allein sind. Durch die Zusammenarbeit entdecken sie die Probleme der Kinder frühzeitiger, können die passende Förderung einleiten. Sie lernen – einem guten Hausarzt gleich – zu entscheiden, welchen Kinder sie selbst helfen können und wann ein Kind die Hilfe eines/r Lerntherapeut/in benötigt. Da Lerntherapeut/in und Lehrer/in für das Kind und die Eltern sichtbar zusammenarbeiten, werden Loyalitätskonflikte vermieden und der Transfer des Erlernten in den Unterricht gewährleistet. Lerntherapeutisches Knowhow fließt so in den Unterricht, was alle Kinder unterstützt. Die lerntherapeutische Einzelförderung erfolgt in der Zeit des Unterrichts und nicht in der Freizeit des Kindes. Sie wird nur so lange benötigt, bis die Lehrerin das Kind wieder im Unterricht fördern kann.
Gemäß der leo. – Level-One Studie von 2011 gibt es in Deutschland 7,5 Mio funktionale Analphabeten unter der erwachsenen Bevölkerung. Die meisten blieben hinter ihren eigentlichen beruflichen Möglichkeiten zurück, 17% sind arbeitslos. Im Vergleich zu den dadurch entstehenden Kosten fallen die Aufwendungen für eine Beschäftigung von je einem/er Lerntherapeut/in an jeder der 15.500 Grundschulen im Bundesgebiet gering aus. Außer Frage steht, wieviel persönliches Leid dadurch verhindert werden könnte.
Es ist an der Zeit, dass die lerntherapeutische Fachexpertise im deutschen Bildungssystem wahrgenommen und gehört wird. Die Beteiligung am künftigen Bildungsrat wäre eine Möglichkeit. Diesem Vorschlag konnte Beer durchaus folgen. Am kommenden Samstag, den 16.06.18 wird auch dafür ein Berufsverband für Lerntherapeut*innen (BLT) gegründet werden.
An der Podiumsdiskussion waren beteiligt:
- Nicola Beer, MdB, Staatsministerin a.D., Generalsekretärin der Freien Demokraten
- Dr. Helga Breuninger (Helga Breuninger Stiftung)
- Marlies Lipka (Geschäftsführerin FiL)
- Yvonne Nitsche (Technische Akademie Schwäbisch Gmünd)
- Prof. Gerheid Scheerer-Neumann (Universität Potsdam)
- Klaus Seifried (Schulpsychologiedirektor a. D.)
- Prof. Michael von Aster (DRK Kliniken Berlin)
Grotlüschen, A. & Riekmann, W. (2011). leo. – Level-One Studie, Literalität von Erwachsenen auf den unteren Kompetenzniveaus. Universität Hamburg.
Weitere Informationen:
Marlies Lipka
Fachverband für integrative Lerntherapie e.V.
Rathausstraße 3b, 14669 Ketzin
T 0151 153 53 233
M gfuehrung(at)lernfil.de
W www.lerntherapie-fil.de
Der Fachverband für integrative Lerntherapie e.V. (FiL) wurde 1989 von einer Gruppe von Lerntherapeut/innen unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Helga Breuninger (www.helgabreuninger-stiftung.de) gegründet. Er ist gemeinnützig und unterstützt die wissenschaftlich fundierte Lerntherapie in Forschung und Praxis. Inzwischen umfasst der Verband ca. 800 Mitglieder - überwiegend praktizierende Lerntherapeut/innen. Das sind vor allem Pädagog/innen, Lehre/innen und Psycholog/innen mit Zusatzqualifikation sowie interessierte Fachleute aus angrenzenden Berufsgruppen.
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